Ich habe heute rund die Hälfte all meiner Klamotten aussortiert. Aussortieren müssen, das trifft es eher. Und eigentlich würde ich zu gern sagen, ich hätte es unfreiwillig getan. Wütend sein. Weinen. Mit dem zu kleinen Kleid, das noch nie die Lichter der Welt gesehen hat, gegen den Spiegel werfen. Verzweifelt in sich zusammensacken. Sich in den Oberschenkel kneifen, die Nägel in das frische Fett rammen solange bis es blutet. Den inneren Schmerz nach außen leiten.
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Ich habe all das nicht getan. Es fühlte sich schrecklich an, zum in den letzten Wochen und Monaten wiederholten Male festzustellen: ich habe zugenommen. Sehr viel zugenommen. Ein Drittel meines Körpergewichts, hallt es in meinem Kopf. Ich wollte weinen. Ich wollte das Kleid zerreißen. Es wegwerfen: wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich niemand haben.
Nachdem meine Mutter gegangen ist, war mir schnell eine Sache klar. Materielles hat keinen Wert, wenn es um den Verlust von geliebten Menschen geht. Es fiel mir damals leicht, mich von fast allem, was ihr gehörte, zu trennen. Kleidung, Kosmetik, Möbel. Das erste, was ich tat, nachdem ich aus dem Krankenhaus zurückkam war ihre Zahnbürste wegzuschmeißen. Wie auf Autopilot. Unbewusst.
Damals war ich noch mein schmales ich, nicht ich selbst, aber seit Jahren daran gewohnt, wenig Platz einzunehmen.
Die Sachen meiner schlanken Mama erschienen mir damals als zu groß. Viel zu groß, um in ihre Fußstapfen zu treten.
Die Monate vergingen. Ich verliebte mich. Gleichzeitig versank ich nachts in Trauer, in Selbstmitleid und Angst. Ich wollte nicht, das sich was ändert. Aber es änderte sich alles.
Immer öfter suchten mich Gedanken heim, in denen es um den Wert meines Körpers und seiner Unversehrtheit ging. Ich konnte doch nicht das Erbe meiner Mutter einfach so zugrunde richten. Ich verdrängte, oft durch Wein oder verbarg durch Schauspiel, vor mir selbst und den anderen, was in mir brodelte. Ohne Erfolg, zum Glück.
Meine Erkenntnis kam nicht von einem Tag auf den anderen. Es dauerte lange bis ich anfing meinen Körper wieder zu spüren. Oft weinte ich, immer noch aus Trauer und Traurigkeit; darum, dass ich MIT meiner Mutter nicht dem Bedürfnis nachging, gesund zu werden. Wie musste sie gelitten haben, mich so zu sehen. Wie konnte sie sich an meinem dünnen Ärmchen festhalten, sich auf meine Stärke verlassen, obwohl nichts davon übrig war?
Es ist kein leichter Weg. Die Trauer allein ist tonnenschwer. Das neue Leben – manchmal unerträglich. Mein neues Ich ist noch im Aufbruch. Seit dreizehn Jahren und damit mein gesamtes Erwachsenwerden war gefüllt von dieser einen Besessenheit, jemand anderes zu sein, sich zu kontrollieren und möglichst wenig Raum einzunehmen. Die Fotos, auf denen ich lache und in perfekter Pose das blühende Leben inszeniere, sie sind ein Fake. So überzeugend, dass ich noch heute darauf reinfalle.
Aber ich bin stärker geworden. Ich zwänge mich langsam aus dem zu engen Kleid, über Kopf, mit hörbar platzenden Nähten. Ich schaue in den Spiegel, nackt. Mein Auge zuckt, ich ziehe eine Trauermiene, presse ein gequältes: „Maaaahhn..!“ hervor. Ich ziehe ein lockersitzendes Shirt an, gucke mir selbst in die Augen und ich lächele. Mein Gesicht, es ist nicht mehr das des 17-jährigen Mädchens, das sich entschied, krank zu werden. Es ist das Gesicht einer 30-jährigen Frau, die einen langen Weg der Selbstkasteiung hinter sich hat und jetzt, mit 30, sich endlich dazu entscheidet, ein gutes Leben zu führen. Ein Leben zu ihren Gunsten. Ein Leben, in dem ihr Körper ihr gehört.
Ich schlüpfe später in ein Kleid, das passt. Ich habe es mir vor kurzem gekauft. Es ist schwarz, gepunktet und hat eine A-Form, die mir schmeichelt. In den Jahren des Dünnseins trug ich alles, weil mir alles passte. Von Schmeicheln wollte ich nichts wissen, schließlich wog ich 45 Kilo. Der Körper ist dann dein ganz persönlicher Kleiderbügel: ob 34 oder 38, alles hat einen Hang zum Hängen.
Jetzt lerne ich wieder meine Körperkurven kennen, ich hülle sie nur in weiche Stoffe, wähle Schnitte, in denen ich mich wohl fühle. Und es gibt Tage, da mag ich auch meinen kleinen Bauch, der mich so sehr an meine Mutter erinnert. Den Bauch, der mir das Leben ermöglichte.
Und wer weiß, vielleicht wird mein Bauch das auch einst übernehmen.
❤
KF
(wenn auch nicht sooo klein und besonders nicht kleinlaut ;)! )